Shavasana – zwischen Leben und Tod
Wenn ich heutzutage gefragt werde, welche der Yogaasanas meine Lieblingsasana ist, ist meine Antwort Shavasana. Und das war nicht immer so. Auch in diesem Bereich habe ich eine jahrelange Yogapraxis benötigt, um den für mich wahren Wert dieser Asana zu begreifen. Früher kam es schon des Öfteren vor, dass ich direkt nach meiner letzten Asana die Matte verlassen habe und wieder in den Alltag eingestiegen bin. Vor einigen Jahren – in Indien- habe ich auf eine eher unangenehme Art und Weise den Wert dieser Asana kennengelernt. Ich hatte wieder einen dieser Tage, an denen ich intensiv Yoga praktiziert habe, ich war voll in meinem Flow und hatte richtig Lust mich zu fordern. Dadurch habe ich die Zeit etwas aus den Augen verloren und merkte plötzlich, dass ich schon vor 5 Minuten meine Kinder aus der Betreuung abholen hätte sollen. Also lief ich raus, schwang mich auf mein Motorrad (ja, in Indien fahre ich Motorrad und ich liebe es) und fuhr zu einer Bekannten meiner Eltern, die den Nachmittag mit meinen Kindern verbracht hatte. Auf dem Weg merkte ich schon, dass mir ganz komisch war, mir war schwindelig und gleichzeitig hatte ich das Gefühl nicht wirklich in meinem Körper zu sein, mir schien alles so abgedämpft und weit entfernt. Dort angekommen, sagte ich es meiner Bekannten und vermutete, dass ich vielleicht unterzuckert war aufgrund der intensiven Yogaeinheit. Sie fragte mich direkt, ob ich Shavasana gemacht hätte. Ich verneinte es mit Erstaunen erinnerte mich wieder daran, wie wichtig es ist nach einer Yogaeinheit den Körper voll und ganz zu entspannen. Wenn alle Muskeln entspannt sind, kann auch Prana ungehindert durch den Körper fließen. Und Prana wird durch das Zusammenspiel von Atem und Bewegung in den Asanas freigesetzt. Wenn es nicht wieder zu Ruhe kommt, kann es den Körper aus der Balance bringen. Ich spürte es am eigenen Körper. Seither lege ich sehr viel Wert auf meine Shavasana Praxis und auch meine Schüler dürfen am Ende jeder Stunde in den Genuss kommen.
Was genau ist Shavasana?
Wörtlich übersetzt bedeutet Shavasana Totenstellung, shava ist der Leichnam und Asana die Haltung. Der Körper hat hier nichts mehr zu tun, er darf einfach da liegen. Auf dem Rücken, Beine hüftbreit auseinander, Fußgelenke und Zehen entspannt, Arme seitlich neben dem Körper, die Handflächen zeigen nach oben. Diese Asana ist die Einfachste und Herausforderndste zugleich. Einfach in der Ausübung, man darf einfach auf dem Rücken liegen, herausfordernd in der Ausführung, man darf entspannen und völlig loslassen. Und genau das fällt den meisten Menschen schwer. Einfach sein, nichts tun, komplett loslassen, die Kontrolle abgeben. Ich hatte schon Schüler in meinen Stunden, die es nicht geschafft haben die Augen zu schließen, für eine Minute bewegungslos einfach nur zu liegen. Es bedarf an Übung, einfach nur dazuliegen. Und zudem noch nicht in einer Gedankenschleife nach der Anderen zu verweilen, sondern bewusst bei dem Körper zu sein, bei der Atmung zu sein, bei sich zu sein. Hier kann das Nervensystem herunterfahren. Der Körper und all seine Prozesse können aus dem sympathischen Nervensystem in das parasympathische Nervensystem wechseln. Aus dem Flucht- und Kampfmodus, angetrieben von täglichen Stressoren, im Hamsterrad des Alltags befindend in den Normalzustand, in dem die Atmung, die Verdauung, die Resilienz wieder ins Gleichgewicht kommen.
Auf die Anleitung kommt es an
Dabei ist es auch sehr wichtig eine gute Anleitung zu bekommen. Es genügen meiner Meinung nach nicht nur 2–3 Minuten um in den vollen Genuss von Shavasana zu kommen. In meinen Unterrichtsstunden lasse ich meine Schüler oft bis zu 10 Minuten in Shavasana verweilen. Ich leite sie von der Wahrnehmung des physischen Körpers, seinen Berührungspunkten zu der Matte, tiefer und tiefer in der Wahrnehmung. Mal dürfen sie die Atmung an verschiedenen Stellen des Körpers wahrnehmen, mal dürfen sie richtig hinein spüren und innere Körperprozesse beobachten, mal die Gedanken beobachten. Oder sie werden durch 61 Punkte im Körper geführt, sie dürfen aber auch einfach nur sein, ihr Prana wahrnehmen, sich über die physischen Grenzen ihres Körpers ausdehnen oder einfach nur in die Entspannung sinken. Wer für sich selbst übt, beginnt am besten damit den Körper wahrzunehmen und dann in die Atembeobachtung zu wechseln. Dabei kann man sich immer wieder dabei erwischen, wie man seinen Gedanken folgt, dann einfach wieder zur Beobachtung zurückkehren, bis man wieder abschweift. Das Abschweifen ist ganz normal und gehört dazu, unser Gehirn muss aktiv bleiben, es ist überlebensnotwendig. Wir dürfen, wenn wir wollen, lernen einfach den Gedanken nicht so sehr zu folgen, uns immer wieder sanft zu unserer Beobachtung zurückzubesinnen.
Shavasana nicht gleich reine Entspannung
Kürzlich durfte ich eine sehr interessante Erfahrung machen. Ich war mir unsicher, ob ich an einem Seminar bei meiner Mentorin teilnehmen sollte, sie bestärkte mich darin und sagte: „komm zum Workshop, es ist wie Shavasana“. Ich dachte mir, na, wenn es wie Shavasana ist, dann bin ich dabei. Ich kann es super gebrauchen zwei Tage lang mit ihrem Mentoring zu chillen. Als ich in dem Seminar saß, es war alles online, ging es von Anfang an sehr intensiv los. Wir wurden in Gruppen geteilt, mussten tief in unsere Persönlichkeit blicken, unsere Blockaden erkennen, Strategien finden und Ziele setzen. Ich war etwas irritiert, weil ich es so gar nicht als Shavasana empfunden habe. Aber nach dem ersten Tag erkannte ich, dass meine Mentorin einen ganz anderen Aspekt von Shavasana meinte, sie meinte nicht das Entspannen und sich hingeben. Vielleicht bezog sie sich auf einen viel tieferen Aspekt dieser wunderbaren Asana. Durch das bewusste Entspannen in Shavasana verbinden wir uns mit unserem Körper im präsenten Moment, in dem Augenblick, in dem wir atmen, wühlen nicht in der Vergangenheit und grübeln nicht über die Zukunft. Es ist der Moment, in dem wir die Chance haben den „Bliss“ des präsenten Moments zu erfahren und in den Genuss der Tiefenentspannung zu kommen. Und das ist wie ein Dominoeffekt, wir bringen dieses Gefühl mit der Zeit (nach sehr viel Übung) über die Matte hinaus in unser Leben, fangen an Dinge aus anderen Perspektiven zu sehen, innezuhalten und den Moment für sich wahrzunehmen, unsere Mitmenschen einfach sein lassen, weil wir uns immer mehr mit dem präsenten Moment identifizieren und weniger mit Konditionierungen und Strukturen der Vergangenheit oder Ängsten über die Zukunft. Shavasana sieht vermeintlich nach etwas Einfachem, gewöhnlichem aus, aber es geht so viel tiefer in unsere Persönlichkeitsentwicklung, als wir es jemals für möglich halten würden.
Zwischen Leben und Tod
Interviews mit Sterbenden, die in den letzten Wochen ihres Lebens gefragt werden, was sie gerne in ihrem Leben anders gehabt hätten zeigen sehr interessante Ergebnisse. Ein großer Teil der Befragten bedauert sehr für andere gelebt zu haben und nicht für sich selbst und mehr den Wünschen und Vorstellungen anderer entsprochen zu haben als seinen eigenen. Beziehen wir das nun auf unsere Shavasana Praxis, der Totenstellung, in der wir jedes Mal wieder die Möglichkeit haben den präsenten Moment zu erfahren, und uns dadurch von den Konditionierungen der Vergangenheit, und somit aller anderer und der Gesellschaft, zu befreien, ist es dann nicht eine schöne Vorstellung jedes Mal sein Altes sterben zu lassen und neugeboren von der Matte zu starten. Eine neue Chance sich selbst zu leben und wieder und wieder, bis wir endlich erkennen, dass uns selbst an erste Stelle zu stellen. Wie in Flugzeugen die Anweisung bei niedrigem Kabinendruck erst sich selbst die Maske anzulegen und dann den anderen zu helfen. Erst müssen wir uns selbst lieben und respektieren, bevor wir allen anderen helfen. Denn dann gehen wir nicht permanent über unsere Grenzen, dann erst leben wir achtsam mit unseren Mitmenschen und uns selbst.
Bist du interessiert?
Hat dich dieser Artikel inspiriert? Vielleicht ist dir deine Shavasana Praxis schon lange sehr wichtig und ich habe dich darin bestärkt weiterhin diesem Teil des Yoga viel Raum zu geben. Aber vielleicht konntest du bisher nicht viel mit Shavasana anfangen. Dann hoffe ich, dass ich dich hiermit inspiriere deine Praxis zu vertiefen, an faulen Tagen vielleicht einfach „nur“ 10 Minuten Shavasana zu üben. Es muss keine vorherige Asanapraxis stattfinden, du kannst auch Shavasana für sich üben. Nach einem stressigen Tag, zwischen zwei Meetings, bevor deine Kinder nach Hause kommen, vor dem Schlafengehen. Shavasana lässt sich überall und zu jeder Zeit üben, nur nicht direkt nach dem Essen. Du brauchst einfach eine nicht zu weiche Liegefläche, warme Socken und eine Decke. Schließe deine Augen und fange ganz einfach in kleinen Schritten an. Erst 2 Minuten, dann 3 Minuten und verlängere die Zeit immer ein bisschen mehr, bis du zufrieden gestellt bist. Denn in kleinen Schritten ist es einfacher sich neue Gewohnheiten zu eigen zu machen, kleine Erfolgsetappen führen zu großen Erfolgen.
Alles ohne Druck, ohne Perfektionismus, ohne Enttäuschung. Einfach nur mit dem Körper verbinden, die Atmung wahrnehmen, genießen und liegen. Auch die Gedanken dürfen sein, alles darf sein und nichts darf sein. So wie es für dich richtig ist, ist deine Wahrheit. Und diese passt sich stetig deinen Veränderungen an….
Alles Liebe,
deine Harini